Wie wichtig ist Gemeinwohl für eine lebbare Welt?

Lesen Sie hier den zweiten Teil zum Thema “Wie wichtig ist Gemeinwohl für eine lebbare Welt?”:

Gemeinwohl und Freiheit

Warum die individuelle Freiheit das Gemeinwohl braucht

Die Art von Person, die ein Mensch wird, ist abhängig von den sozialen, kulturellen und institutionellen Umständen seines Lebens, nicht nur von seinem persönlichen Erfolg und Wohlstand. Darin wird erkennbar, wie wichtig das Gemeinwohl, das bonum commune, für den Einzelnen ist. Gemeinwohl sollte als Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung angesehen werden und dieser dienen. 

Die natürliche Freiheit, der Naturzustand, ist mit der unausweichlichen Sozialität der Menschen verschwunden. Die Menschen gewinnen aber kollektive Selbstbestimmung, den Schutz und die Anerkennung durch alle anderen, Sicherheit und Gemeinwohlorientierung durch Zusammenwirken als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft.

Das Bewusstwerden der eigenen Verletzbarkeit ist ein wesentliches Moment für die jeweils ganz subjektive Erfahrung, warum das eigene Wohl vom Wohl der anderen abhängt und dieses wiederum beeinflusst… Dieses außerhalb unseres persönlichen Wollens liegende systemische Aufeinander-Angewiesensein übersteigt oft unser Wahrnehmungsvermögen. Deshalb tun sich viele schwer, die funktionale Wichtigkeit sozialer Verbundenheiten als Voraussetzung für individuelle Freiheiten zu erkennen … Ohne Gemeinwohl keine Freiheit, ohne Wir kein Ich … Gemeinwohl wird zur Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung.

Gemeinwohl ist heute das, was den Angehörigen einer Gemeinschaft Freiheit zur Ausbildung von Individualität zuspricht oder rechtsstaatlich gerade ermöglicht, die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen ohne Auslöschungskonkurrenz zu leben. Das heißt, das Gemeinwohl gilt der Herausbildung, der Erziehung und Förderung von Individualität. Das ist weder dialektische Spielerei noch Paradoxenreiterei, denn Identität, also das den Mitgliedern einer Gemeinschaft Gemeinsame lässt sich nur gewinnen durch die Anerkennung derer, von denen man sich unterscheiden will.

Warum freiheitliche Demokratie und Rechtstaat Ausdruck des Gemeinwohls sind

Der Verfassungsgeber trifft grundlegende Entscheidungen darüber, was das Gemeinwohl sein soll. In einer freiheitlichen Gesellschaft besteht das Ziel von Verfassungsregeln darin, der Entfaltung des Individuums möglichst viel Raum zu lassen und Freiheiten nur so weit einzuschränken, wie es aufgrund von Konflikten unter Individuen oder zur Sicherung der Bereitstellung öffentlicher Güter erforderlich ist.

Corinne M. Flick: Durch sein Bürgersein opfert der Einzelne dem Staat einen Teil seiner Freiheit. Dieser Verlust an Freiheit wird dadurch ausgeglichen, dass er sein Individualwohl aufgrund des Gemeinwohls besser gestalten kann.

Die neuzeitliche westliche Gesellschaftsformation hat das Freiheitsprinzip, verstanden als personale Entfaltungs- und Selbstbestimmungsfreiheit, an die Spitze gestellt, aber im Sinne der konstruktiven Spannungslage notwendige, gewillkürte oder traditionelle Gemeinschaften in den Gemeinwohlhorizont eingeblendet.

Die Versöhnung der personalen mit der kommunitären Perspektive wie auch die des partikularen mit dem universellen Blickwinkel gelingt in einer staatlichen Rechtsordnung, die ein Minimum an Konsistenz aufweist, die als rechtsstaatliche Demokratie grundlegende Freiheitsrechte achtet und zugleich nach innen und außen für das Friedens- und Freiheitsprinzip wirkt.

Timo Meynhardt: In einer Demokratie sind Wahlen immer auch Abstimmungen über Gemeinwohlvorstellungen und deren Durchsetzbarkeit. Die anstehende Europawahl im Juni 2024 entscheidet darüber, wie das gute Leben in Gemeinschaft auf unserem Kontinent aussehen könnte.

Warum das Gemeinwohl zur liberalen Frage schlechthin wird

Corinne M. Flick: Die gelebte Freiheit (im Unterschied zur theoretischen Freiheit) ist immer ein Kompromiss, der sich aus der Priorisierung verschiedener Werte ergibt…Europa sollte sich die Frage stellen, ob es in Bezug auf Freiheit nicht zu selbstsicher ist. Herausforderungen wie der sich verschärfende Systemkonflikt mit autoritären Staaten bedrohen den westlichen Freiheitsbegriff, und Digitalisierung oder Klimawandel bzw. Pandemie können die Perspektive auf die Freiheit verändern. 

Timo Meynhardt: Die heutige Frage ist, wie die moderne, offene Gesellschaft auf Krisen reagieren sollte, die nur durch massive Einschränkungen persönlicher Freiheiten überwunden werden können. Wie ist dann das Verhältnis von Gemeinwohl und Freiheit zu denken? Gemeinwohl ist kein Gegensatz zur Freiheit eines jeden und aller, sondern deren Voraussetzung.

In Krisensituationen entstehen immer wieder Scheidewege, an denen es im aufgeklärten Europa bei aller Bewegungsfreiheit des Gemeinwohls nur einen Kompass geben kann: die Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen. Insofern sollte jetzt die Zeit der liberalen Gemeinwohldenker anbrechen, die sich die Voraussetzungen für die freie Entfaltung eines jeden und damit aller zur Denkmaxime machen. Die Gemeinwohlfrage wird zur liberalen Frage schlechthin.

Wenn Sie mehr zum Thema erfahren wollen, lesen Sie hier Teil 1. 

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